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New York City. Vier Monate später.
Der riesige, holzvertäfelte Saal war gerammelt voll mit Anwälten, Sicherheitsbeamten und Reportern. Mehr bekam Andie DeGrasse nicht mit. Noch nie hatte sie von einem Ort so schnell wieder verschwinden wollen wie von hier.
Doch Andie war sich ziemlich sicher, dass die anderen etwa fünfzig Leute, die als potenzielle Geschworene geladen waren, dasselbe dachten.
Geschworenenpflicht – dieses Wort hörte sich für sie an wie »Grippe«. Oder »Herpes«. Ihr war gesagt worden, sie solle sich um neun Uhr morgens im Bundesgericht am Foley Square einfinden. Dort füllte sie die Formulare aus, feilte an ihren Entschuldigungen und schlug eine Stunde mit einer Elternzeitschrift tot.
Dann wurde gegen halb zwölf ihr Name von einem Justizbeamten in Uniform aufgerufen, woraufhin sie mit einer Reihe anderer Unglücksraben mit unsicheren, entnervten Gesichtern in einen großen Gerichtssaal im sechsten Stock getrieben wurde.
Sie blickte sich um, versuchte abzuschätzen,
wie viele zappelige, umherspähende Leute in die große Zelle
gezwängt wurden.
Die Szene war wie ein Schnappschuss aus der U-Bahn-Linie 4
Lexington Avenue. Menschen in Arbeitskleidung – Elektriker,
Mechaniker –, Schwarze, Latinos, ein Chasside mit Käppchen. Jeder
versuchte, die Vertreter der Anklage und der Verteidigung davon zu
überzeugen, dass er nicht hierher gehörte. Zwei wohlhabende
Geschäftsleute in Anzügen tippten auf ihren BlackBerrys und
demonstrierten höchst eindeutig, dass sie weit Wichtigeres zu tun
hatten.
Sie waren es, um die sich Andie am meisten Sorgen machte, und
deshalb behielt sie sie argwöhnisch im Auge – diese Kandidaten mit
ihren bewährten, ausgefeilten Eins-A-Entschuldigungen, die ihnen
als Freifahrtschein dienten. Schreiben ihrer Chefs. Besprechungen
mit Geschäftspartnern. Reisepläne. Platzende Geschäfte. Eine schon
vollständig bezahlte BermudaKreuzfahrt.
Natürlich war Andie nicht völlig mit leeren Händen
gekommen.
Sie hatte ihr enges, rotes T-Shirt mit der Aufschrift »Bitte nicht
stören« angezogen. Es war das schäbigste Teil, das sie besaß, aber
hier ging’s ja nicht um die Wahl der Schönheitskönigin.
Hier ging es darum, sich entschuldigt verabschieden zu können. Auch
wenn man dafür einen auf dumm oder naiv machen musste.
Dann war da noch der Trumpf mit der alleinerziehenden Mutter. Der
war legitim. Jarrod war neun, ihr bester Kumpel und derzeit ihre
größte Nervensäge. Wer würde ihn von der Schule abholen, seine
Fragen beantworten, ihm bei den Hausaufgaben helfen, wenn sie nicht
für ihn da sein konnte?
Und schließlich gab es noch ihre Vorsprechtermine. Ihr Agent
William Morris hatte ihr allein für diese Woche zwei Termine
besorgt.
Um sich abzulenken, zählte Andie die Gesichter der Menschen, die
intelligent und aufgeschlossen wirkten, ohne zu vermitteln, dass
sie eigentlich etwas Wichtigeres vorhatten. Bei zwanzig hörte sie
auf. Das gab ihr ein gutes Gefühl. Man brauchte doch nur zwölf,
oder?
Neben ihr beugte sich eine kompakte Latinofrau, die einen
pinkfarbenen Babypullover strickte, zu ihr herüber.
»Tschuldigung, aber wissen Sie, was das für eine
Gerichtsverhandlung sein soll?«
»Nein.« Andie zuckte mit den Schultern und blickte sich zu den
Sicherheitskräften um. »Aber, wie’s aussieht, ist es was Großes.
Sehen Sie diese Typen da? Das sind Reporter. Und haben Sie draußen
die Absperrungen und diese Polizisten gesehen, die überall
herumwuseln? Hier gibt’s mehr Uniformen als in der Umkleidekabine
von der New Yorker Polizei.«
Die Frau lächelte. »Rosella«, stellte sie sich freundlich
vor.
»Ich bin Andie.« Andie reichte ihr die Hand.
»Also, Andie, wie wollen Sie auf die Geschworenenliste kommen?
Haben Sie einen Plan?«
Andie blinzelte, als hätte sie nicht richtig gehört. »Sie wollen
tatsächlich ausgewählt werden?«
»Klar. Mein Mann sagt, man kriegt vierzig Dollar am Tag, plus
U-Bahn-Fahrt. Die Frau, für die ich arbeite, die hat eine komische
Art zu bezahlen. Also, warum nicht das Geld nehmen?«
Andie lächelte und zuckte nachdenklich mit den Schultern. »Klar,
warum nicht?«
Die Gerichtsdienerin kam herein, eine Frau mit schwarzem
Brillengestell und zusammengekniffenem Gesicht. Sie sah aus wie
eine alte Schulmeisterin. »Erheben Sie sich. Richterin Miriam
Seiderman.«
Alle drückten sich aus ihren Sitzen.
Andie beugte sich zu Rosella, als eine attraktive Frau um die
fünfzig mit Spuren von grauem Haar den Gerichtssaal betrat und zu
ihrem Platz ging. »Also, Rosella, wollen Sie wissen, wie Sie
genommen werden?«, flüsterte sie ihr ins Ohr.
»Klar.«
»Schauen Sie einfach zu.« Andie stupste sie an. »Und tun Sie genau
das Gegenteil von dem, was ich tue.«